Von der Orthopädie, Psychologie und Hühnern

Wie steige ich in einen Text ein, in dem es um ein Kernproblem des Gesundheitssystems im Zusammenhang mit Schmerzen gehen wird?  

Mir geht es gerade echt nicht gut, am Montag bin ich aufgestanden und konnte mich nicht mehr bewegen. – Hexenschuss denke ich, ISG-Blockade sagt die Ärztin, Ischias meint meine Nachbarin. -eigentlich darf ich grade nicht ausfallen, ich pflege meine Mutter, was soll ich tun?“ 

Diese Nackenschmerzen bringen mich um! Ich habe das seit Jahren und nichts hilft. Ich hab wirklich schon alles probiert – Massagen, Spritzen, Akupunktur. Ich werde diese Spannung einfach nicht mehr los. Schmerzmittel helfen schon lange nicht mehr.“ 

Es fällt nicht in den Bereich des Arztgeheimnisses, wenn ich dir sage, dass du diese Sätze in Arztpraxen jeden Tag hören kannst. Und vielleicht hast du selbst schon erlebt, wie unterschiedlich die Antworten auf solche Aussagen ausfallen können. Ärztinnen, Therapeutinnen aber auch einfach Nachbar*innen – alle haben eine Meinung, oft eine andere. Am Anfang stand die Hoffnung, am Ende bist du nicht reicher an Lösungen, aber an Fragen.

Den Herzinfarkt habe ich nur knapp überlebt, kurz vor der Ziellinie beim Marathon. Das ist aber jetzt ein Jahr her und ich habe immer noch Schmerzen in der Brust. Wie geht es jetzt weiter?“ 

Es ist das eine, das Leben nach einem Herzinfarkt zu retten. Wichtig ist aber auch die Frage: Wie sieht das Leben danach aus?Und auch wenn chronische Schmerzen das Leben nicht bedrohen, können sie den Alltag so sehr verändern, dass die Lebensqualität massiv sinkt. Genau hier prallen die unterschiedlichen Blickwinkel aufeinander: Orthopädisch, psychologisch, internistisch – jede Disziplin sieht deine Situation durch ihre eigene Linse. Methoden, Diagnosen und Handlungsempfehlungen unterscheiden sich. Mal sind sie wissenschaftlich begründet, mal durch Erfahrung geprägt, manchmal auch durch persönliche Überzeugungen. Wer hat recht – wer unrecht?

In diesem Kapitel geht es nicht darum, dir eine endgültige Antwort auf diese Fragen zu geben. Vielmehr möchte ich mit dir die Unterschiede zwischen den Fachbereichen anschauen. Vielleicht finden wir Zusammenhänge, die man erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt – und neue Aspekte, die uns beiden vorher nicht bewusst waren.

Ich werde mich dabei im Wesentlichen auf zwei Betrachtungsweisen beziehen, die in meiner Wahrnehmung am weitesten voneinander entfernt liegen. Die Antwort auf die Frage vom Anfang: wie steige ich in diesen Text ein? -garnicht, wir sind schon mitten drin. 

Die zwei Betrachtungen 

Orthopädie

Im Mittelpunkt steht hier das Zusammenspiel zwischen deinen Muskeln und Knochen - aber auch den dazugehörigen Sehnen, Bändern und in den letzten Jahren auch vermehrt den Faszien. Vielleicht hast du auch schon einmal das böse Wort Schleimbeutelentzündung gehört. Am prominentesten ist aber sicherlich der Star der Orthopädie: die Bandscheibe. Wann immer eine oder mehrere dieser anatomischen Strukturen eine Funktionsstörung zeigen, wissen Orthopädi*innen (im Optimalfall) wie sie am besten zu behandeln sind. 

Mittel der Behandlung sind in der Orthopädie vor allem Schmerzmittel, Spritzen, allgemein Medikamente. Vereinzelt werden Bestrahlungen verwendet um Symptome zu lindern. Wenn all dies nicht hilft, kann über einen chirurgischen Eingriff die Ursache für deinen Schmerz behandelt werden. Dem vorangehend ist immer eine ausführliche und gute Diagnostik. Röntgen, MRT als bilgebende Verfahren sind ein maßgeblicher Bestandteil dieser. 

Hier liegt die Stärke der Orthopädie: eine klare strukturbezogene Analyse mit einem eindeutigen Ergebnis. 

Die Schwäche der Orthopädie ist, dass sie oft einen rein biomechenischen Erkläransatz für Schmerzsymptomatiken hat. Hier liegt eine große Hürde: 

Vielleicht erlaubst du mir einen kleinen Vergleich aus dem Alltag: Angenommen deine Kaffeemaschine funktioniert nicht. Seit Wochen baut sie keinen Wasserdruck mehr auf. Es könnte die Pumpe sein. Vielleicht liegt es aber auch an Kalk, der sich in den Leitungen abgesetzt hat. Wenn es am Kalk im Wasser läge, müsste man entkalken und zukünftig vielleicht zu destilliertem Wasser greifen. Läge es an der Pumpe, sollte diese ausgetauscht werden. Wenn ich aber nicht genau ermittle woran der Fehler liegt, ist es schwer ihn dauerhaft zu beheben. (Und um das einmal deutlich zu sagen, ich werde es auch nicht ermitteln, weil ich absolut keine Ahnung von Kaffeemaschinen habe). 

Es braucht bei mechanischen Problemen also immer eine ausgesprochen gute Diagnostik, um eine gute Lösung zu finden - sind wir uns da einig? Außerdem kann eine Kaffeemaschine nicht fühlen. So ist die große Stärke der Orthopädie auch ihre größte Schwäche: ermittelt man die Ursache des Problems - wunderbar. Aber man muss die Ursache auch ermitteln. 

Psychologie: 

Es besteht aus psychologischer Sicht absolut kein Zweifel daran, dass du mit einem aktuell offenen Schienbeinbruch im Krankenhaus sein solltest. Warum du aber seit Jahren einen verspannten Nacken hast wird psychologisch vielleicht doch anders erklärt als orthopädisch, oder nicht? 

Orthopädie wirkt oft über äußere Anwendungen, in der Psychologie kann neben der Gabe von Psychopharmaka vor allem in der Gesprächstherapie ein Mehrwert geschaffen werden. Ob Verhaltenstherapeutisch oder Tiefenpsychologisch, hier geht es erstmal um dich. Im Anschluss kann es um dich und deinen Körper gehen. 

Auch wenn in der heutigen Zeit die medizinische Relevanz von Psychotherapie kaum mehr in Frage gestellt wird, sind wir gesellschaftlich teilweise noch in großen Graubereichen, wenn es darum geht, wie ernst wir dieses Feld nehmen. Bei Depressionen, Burnout oder anderen psychosomatischen Erkrankungen ist eindeutig klar dass diese psychotherapeutisch behandelt werden sollten. Aber bei Rückenschmerzen?

Die große Stärke dieses Berufsfeldes ist die Möglichkeit zu einer Bindung und tiefen Vertrauensbasis zwischen Patient*in und ihren Behandelnden. Hier bist du kein Körper. Hier bist du du selbst. 

Der Nachteil liegt auf der Hand. Bei einem Herzinfarkt hilft keine Gesprächstherapie. Bei einem offenen Knochenbruch mit starken Blutungen empfiehlt sich eine schnelle Wunderversorgung, keine positiven Gedankengänge. 

Vielleicht hast du eines schon heraus gelesen: Schmerz ist niemals nur Knochen oder nur Seele. Schmerz ist beides – und weit mehr als das. Erst wenn wir das annehmen, erkennen wir: Die einfachste Antwort verschleiert oft die eigentliche Wahrheit. Beide Behandlungsansätze haben eine absolute Berechtigung in der Medizin. Beide haben klar abgesteckte Bereiche, in denen der jeweils andere Ansatz nicht angebracht wäre – oder zumindest eine geringere Priorität hat. Und doch gibt es immer wieder Momente, in denen beide Betrachtungsweisen gleichermaßen helfen können und berechtigt sind. Welche Bereiche das sind, finden wir jetzt gemeinsam heraus – und wir werden uns die Frage stellen: ist es die Henne oder das Ei?

[Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten, beide sind wichtig und entscheidend. Aber zum jetzigen Zeitpunkt machen beide in meinen Augen gleich viel Sinn. Entweder schauen wir uns interessante Studien an. Das ist ziemlich informativ und teilweise fällt einem der Kiefer runter. 

Oder wir werfen einen kurzen Blick auf Schmerztypen und Zeiträume. Beides sollte man einmal gelesen haben. Aber in welcher Reihenfolge, das ist glaube ich fast egal. 

Für mich fühlt es sich besser an jetzt den trockenen Teil, also die Schmerztypen zu definieren. Ich kann mir gut vorstellen dass man dann bei der ein oder anderen Studie ein kleines „Aha-Erlebnis“ hat. Aber wenn du kurz etwas weniger trockenes brauchst lies gerne später an dieser Stelle weiter.] 

Die drei verschiedenen Schmerzphasen*(*Gem. ICD-11, IASP)

Akut: -Kurzfristig- meist bis 6 Wochen  

Hab mich da gestern verhoben, sone Scheiße du, dat zieht mir echt die Beine wech

Subakut: -zieht sich n bisschen- etwa 6 bis 12 Wochen (also 1,5 bis 3 Monate).

Paar Wochen, wat willste machen, muss ja“ 

Chronisch: -hat Zeit- länger als 3 Monate 

Hömma Gevatter Schnurschüh, dat schwere Ding da heb ich dir nich. Ich hab Rücken

Wichtig: Diese Einteilung bezieht sich nur auf die Dauer der Schmerzen – nicht auf die Dauer der Heilung. Gewebe heilt oft viel früher oder später vollständig. Schmerzen können fortbestehen, auch wenn die Heilung längst abgeschlossen ist. Ebenso kann noch unverheiltes Gewebe nicht mehr schmerzen. 

Hast du dir auch schon mal in den Finger geschnitten und dachtest im ersten Moment dir fällt die Hand ab? Meistens spüren wir den Schnitt nach ein paar Tagen nicht mehr, auch wenn er noch sichtbar ist. Auch wenn Schmerzen oft eng mit Heilung verbunden sind, läuft ein Großteil davon schmerzfrei ab. 

Gewebsheilung ist nicht gleichzusetzen mit Schmerzen.

Die verschiedenen Schmerztypen 

Jetzt mal losgelöst von medizinischen Schmerztypen. Lass uns mal kurz selbst überlegen bevor wir ins Lehrbuch schauen. 

Nozizeptiver Schmerz 

Großer Zeh gegen den Tisch - das hatten wir. Vielleicht können wir unter diesem Punkt Ähnliches finden. Du stößt , verhebst, verdrehst dich. Knochenbrüche, Muskelverletzungen, Bänderrisse, all die Schreckensmomente in unserem Alltag, die uns mal mehr mal weniger aus der körperlichen Unversehrtheit reißen. In der einen oder anderen Form kennen wir das irgendwann alle. Diese Schmerzform nennen wir den Nozizeptiven Schmerz. Du erinnerst dich bestimmt oder? Nozizeption? Hypothalamus? Amygdala? Kopfkino? Mhm- Richtig das hatten wir schon. 

Neuropathischer Schmerz

Kribbeln in den Händen, ein plötzliches brennen in einem Körperteil oder auch das Gefühl dir rammt plötzlich jemand ein Messer in den Rücken. Das ist Neuropathischer Schmerz. Er wird zum Beispiel ausgelöst durch eine Nervenläsion, also einen Schaden an deinen Nerven selbst. Eine intensive Unterform dieser Schmerzform ist der Phantomschmerz. Bestimmt hast du schon einmal davon gehört, dass Menschen ein Körperteil entfernt, also amputiert wird. Manchmal kann das abgenommene Körperteil auch wenn es garnicht mehr da ist trotzdem Schmerzen. Und selbst wenn es nicht weh tut, kommt es vor, dass nachdem jemanden das Bein amputiert wurde, trotzdem immer wieder der große Zeh juckt. 

Zentralisierter / Noziplastischer Schmerz 

Und dann gibt es da noch den zentralisierten Schmerz. Zentralisiert bedeutet unabhängig von einem körperlichen Schaden hast du trotzdem Schmerzen. Das kann auch passieren, wenn du in der Vergangenheit einmal einen Schaden hattest, dieser ausheilte aber die Schmerzen weiter bestehen blieben. 

Die Krux bei Schmerztypen ist, dass sie je nach Fachbuch noch viel detaillierter in verschiedene Unterkategorien eingeteilt werden und es deshalb ganz schön verwirrend sein kann sich damit auseinander zu setzen. Was wir auf jeden Fall fest halten müssen, ist dass es ein großes Feld an Schmerzformen gibt, bei denen wir anders als man vermuten würde, keinen wirklichen Zusammenhang zwischen der Schmerzintensität und der Schmerzursache finden müssen. 

Es tut weh, aber es ist nicht klar warum. 

Und das liegt nicht daran, dass wir die Qualität des Wassers deiner Kaffeemaschine nicht richtig ermittelt hätten. Sondern hängt es vielmehr damit zusammen, dass dein Nervensystem schlichtweg die Entscheidung trifft, dass du Schmerzen hast. Du bist keine Kaffemaschine, du bist ein lebendiges, empfindungsfähiges Wesen in einem auf biomechanischen und biochemischen Prinzipien beruhenden Körper. Deine Emotionen sind Teil dieser Prozesse, ob du willst oder nicht. 

Für dieses Schmerzbild interessant zu wissen: 

Die WHO (World Health Organisation) hat sich aufgrund der aktuellen Forschungslage 2019 dazu entschieden, chronischen Schmerz in den ICD-Katalog (International Classification of Diseases) aufzunehmen. Seit 2022 gilt chronischer Schmerz damit offiziell als vollständige Diagnose und steht gleichwertig neben anderen Erkrankungen.

Auch wenn dir die ICD vielleicht nichts sagt, bist du ihr schon begegnet: Jeder Schnupfen, jede Grippe, jede bekannte Erkrankung ist darin katalogisiert und festgehalten. Die ICD ist die Grundlage für Diagnosen, Abrechnung und medizinische Dokumentation – weltweit.

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Kopfkino