Kopfkino
Szene eins:
Es ist ein Dienstag, die Sonne steht zart glitzernd an einem fast wolkenfreien Horizont. Ein leichter Südostwind weht unspürbar, denn du bist in deinem Wohnzimmer. Es bahnt sich ein Zusammenprall an. Zwischen dir und deinem Nemesis der Tischkante. Das Ekelpaket, welches oftmals von anderen als Couchtisch beschrieben, von dir aber nur „dummes Scheißteil“ genannt wird. Wummernde Beats zum Spannungsaufbau. Es kommt zur Kollison. Zwei Giganten treffen aufeinander, Tischkante gegen Menschenzeh. Man könnte es auch einen mechanischen Stimulus nennen (macht aber weniger Spaß). Die Rezeptoren springen im Viereck, sie rufen lauthals:
„Aktionspotenzial, Aktionspotenzial, Aktionspotenzial“
Relativ einsilbige aber laute Kerlchen diese Rezeptoren. Dieser Ruf schallt Dir durch den sprichwörtlichen Mark und Bein. Über ganze Neuronen hinweg bis hin zum Thalamus - dem Nachrichtenvermittler der Region. Keine Nachricht kommt an ihm vorbei und er stellt sich auf der Stelle auf den Marktplatz und schreit: “Extrablatt, Extrablatt: „Aktionspotenzial, Aktionspotenzial, Aktionspotenzial“ Und irgendwie schafft es dieser kleine Thalamus wirklich zu allen eine Verbindung aufzubauen.
Die Amygdala ist emotional nicht ganz sicher wie sie die Situation einschätzen sollte. Tendenziell würde sie wirklich gerne eine Panickattacke bekommen und voller Hysterie über den Marktplatz rennen. Aber sie will auch nicht immer gleich beim kleinsten Trigger Alarm schlagen.
Die Insula versteht den ganzen Lärm allerdings nicht und denkt sich: „drei Aktionspotenziale? Drei?! Na das ist ja nichts im vergleich zu den 3456 beim großen Stoß von 86. Die Amygdala regt sich nur wieder auf, so auf einer Skala von 1-18,53 würde ich sagen sind wir bei einer drei.“ noch sagt sie aber nichts. Sie ist schließlich etwas gemäßigter.
Der präfrontale Kortex ist da näher an der Amygdala und keucht leicht wehleidig: „Leute ich empfinde das grade schon eher als unangenehm, ich würde fast sagen ich leide! Nein- ich würde es nicht nur sagen. Ich leide wirklich!“
„Ganz ruhig!“ flüstert der anterior singuläre Kortex „darüber wird zu reden sein, meinen sie nicht auch? Lassen sie uns noch einmal genauer hinschauen wie sehr sie leiden? Könnte man just in diesem Moment nicht auch die Frage stellen, leiden wir überhaupt und wenn ja, was ist Leiden? Lassen sie uns das doch mal ganz kontemplativ erfassen.“ „DREI! Wir leiden DREI!“ Ruft die Insula.
„Entschuldigen sie werte Leidensgenössinnen, nur um das mal kurz zu erwähnen, wir haben uns dieses Mal übrigens den kleinen, nicht wie schonmal irrtümlich angenommenen den großen Zeh gestoßen“ fügt das sensorische Zentrum hinzu. „Ich wiederhole, den kleinen Zeh“ könnte ein Hirnzentrum den Zeigefinger heben würde es das sensorische Zentrum jetzt tun. „Mir egal ob großer oder kleiner Zeh, nimm ihn da weg! Um alles in der Welt nimm ihn weg, ich leide!“ „Ai Ai Captain Leid, Fuß wird weg gezogen“ erwidert das motorische Zentrum dem präfrontalen Kortex nüchtern mit einem Hauch Gehässigkeit.
„Oh nein oh nein, der präfrontale Kortex weint, Leute aufpassen müssen wir, Leute wirklich vorsichtig jetzt“ - langsam wird die Amygdala kribbelig, sie wird sich dieses Mal ganz sicher die gottverdammte Tischkante merken. „Oh mein Gott wie aufregend!“ der Hypothalamus ist erquickt, er liebt es wenn etwas passiert und er seinen Freunden Sympatikus, Parasympatikus und natürlich der Hypophyse - bitte die Hypophyse nicht vergessen - von all der Aufregung erzählen kann. Und wenn diese erstmal von der Geschichte der Tischkante erfahren haben, verbreitet sich die Information wie ein Laubfeuer im gesamten Körper.
„ES REICHT! Ruhe jetzt!“ das periaquäduktale Grau hat genug. „Es ist die gottverdammte Tischkante ihr Paniknasen. Die Tischkante!… Wir haben uns schon 100 mal den Fuß dort gestoßen und nie ist etwas passiert, stimmt doch Insula, Amygdala, oder etwa nicht? (Regieanweisung: Alle nicken zaghaft) Na seht ihr. Und jetzt sagen wir einmal alle zusammen laut Scheiss Tischkante und dann ist doch gut - zumindest bis zum nächsten Mal.”
Cuuuuut- Drehende!