Die Anatomie deines Aua
Um Begriffe im Umgang zu verstehen, hilft es mir oft erstmal zu schauen, wo wir sprachlich stehen. So beschreibt der Duden Schmerz als „eine durch Krankheit oder Verletzung ausgelöste sehr unangenehme körperliche Empfindung“.
Die „International Association for the Study of Pain“ kurz IASP hingegen definiert Schmerz als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebschädigung verknüpft ist (…)“ oder im weitesten Sinne mit ähnlichen Worten beschrieben werden kann.
Beides klingt auf den ersten Blick ähnlich. Bei genauerem Hinsehen sind allerdings klare Unterschiede erkennbar. Im Duden gibt es eine eindeutige Ursache für den Schmerz, „eine Krankheit oder Verletzungen“. Das IASP beschreibt es etwas weicher. Hier kann auch nur eine „drohende Schädigung“ mit Schmerzen verbunden sein. Zwischen einem tatsächlichen Schaden und einer drohenden Schädigung unterscheidet man nicht nur im Strafrecht. In der Medizin und den verschiedenen medizinischen Wissenschaftszweigen geht es zum einen darum Leben zu retten, bei Herzinfarkten den Tod zu vermeiden oder Krebs zu bekämpfen. Zum anderen geht es aber auch darum, Lebensqualitäten von Menschen, die unter Schmerzsymptomatiken leiden, deutlich zu verbessern. Manche Bereiche (vor allem die lebensrettenden) sind operativ tätig, andere eher therapeutisch. Physiotherapeut*innen, Logopäd*innen, Ergotherapeut*innen, aber auch Orthopäd*innen, Internist*innen, Psycholog*innen, Körpertherapeut*innen, Coaches, Yogalehrende, Personaltrainer*innen. Es gibt viele verschiedene Ideen davon, warum es zu einem individuellen Schicksal kommt und entsprechend unterschiedlich viele Lösungsansätze. In meinem Alltag als Physiotherapeut ist mir über die Jahre immer wieder aufgefallen, dass Menschen ratlos, teilweise fast hilflos sind und Angst haben, weil der Körper auf einmal an einer Stelle schmerzt, an der er es sonst nicht tat. Manchmal sind sie sogar zusätzlich verwirrt davon, dass verschiedene Akteure des, im weitesten Sinne medizinischen Sektors, verschiedene Einschätzungen zu ihrer Situation haben. Selbst in der Physiotherapie gibt es in den Behandlungsansätzen teilweise massive Unterschiede.
Ziel des nächsten Kapitels ist es, die grundlegenden Mechanismen von Schmerz zu beleuchten - unabhängig von einer Diagnose. Denn so unterschiedlich verschiedene Diagnosen auch sein können, so unterschiedlich die Behandlungsangebote auch sind. Schmerzmechanismen im Hirn sind für alle gleich. Deshalb macht es Sinn, das wir sie uns einmal genauer anzuschauen. Am Ende dieses Kapitels verstehst du hoffentlich, warum die Unterscheidung zwischen dem, was der Duden schreibt, und dem, was die moderne Forschung sagt, wichtig ist.
Ich beschreibe den Begriff „Nozizeption“. Nozizeption ist zu deutsch die Schmerzweiterleitung. Und mit der Begriffsbeschreibung, erkläre ich dir Stück für Stück den Prozess vom Stoß des kleinen Zehs an der Tischkante bis zum Fühlen der eigenen Ungeschicktheit.
Nozizeption:
Das Wort Nozizeption klingt zugegebenermaßen erstmal kompliziert. Für mich zumindest. Aus dem lateinischen stammend bedeutet „Nocere“ Schaden. Nozizeption bedeutet im Grunde nichts anderes als Schadens- oder Schmerzweiterleitung. Lass uns für einen Moment zu dem vorherigen Beispiel zurück kommen. Du stößt dir deinen kleinen Zeh an der Tischkante. Wie spürst du das? Wie wird dieser „Schaden“ deinem Hirn gemeldet und somit für dich spürbar? Wo entsteht Schmerz?
In deinem ganzen Körper gibt es dafür Rezeptoren. Sie sind im Grunde nichts anderes als offene Ohren, deren Lauscher immer ganz weit offen stehen für allerlei Tratsch, der durch die Straßen schallt. Bei manchem Tratsch und Geschnatter hören sie besonders genau hin. Bei den Themen:
- mechanischer Druck
- Hitze
- Chemie
sind Nozizeptoren neugierig. Für diese drei Themen sind sie wahnsinnig begeisterungsfähig.
„…und dann hast du dir das Knie am Tisch gestoßen? Scheiße ist das spannend, das ist doch letzte Woche erst passiert.“ - Mechanischer Impuls
„Die Hand ist auf der heißen Herdplatte?!“ Halt mich fest ich packs nicht, erzähl mir mehr! Ist es heiß? Wie heiß?!“ - Thermischer Impuls
Während es sich bei diesen beiden Themen vor allem um äußere Reize handelt, werden chemische Reize meist innerkörperlich ausgelöst. Vor allem durch Hormone und Enzyme lassen die großen Ohren der Rezeptoren genauso klingeln wie ein Schlag gegen das Schienbein. In dem Moment in dem gewisse Hormone, Enzyme oder einfach nur Schwankungen in der molekularen Struktur deines Blutes auffällig werden, bemerken das deine Nozizeptoren.
Das ist auch besonders wichtig, sonst würden wir Bauchschmerzen nicht spüren und wüssten nicht wann wir etwas schlechtes essen. Wir hätten keine Idee davon dass unsere Muskulatur vor Erschöpfung krampft, oder würden bei einem Herzinfarkt nicht den Notarzt rufen, weil wir die Symptome nicht spüren.
Also nochmal zusammengefasst:
Um Schmerz überhaupt fühlen zu können gibt es Nozizeptoren. Diese reagieren auf einen mechanischen, thermischen oder chemischen Reiz. Wird ein Nozizeptor durch einen Reiz stimuliert, entsteht in ihm ein elektrisches Signal. Wir nennen dieses ausgelöste Signal Aktionspotenzial. Interessanterweise ist es fast egal, wie hart du dir deinen Fuß am Tisch stößt. Aktionspotenziale sind immer gleich. Variabel ist die Frequenz solcher Potenziale. Je fester du dich stößt, umso häufiger entstehen diese elektrischen Impulse, umso dichter die Frequenz. Ist ein Aktionspotenzial erstmal entstanden, schießt es in Windeseile über deine Nervenbahnen hinauf zum Hirn. Diese Nervenbahnen, das ist vielleicht später wichtig, sind kein durchgängiger Strang. Sie bestehen aus drei einzelnen Neuronen – drei Teilstücken, die in Reihe eine Bahn ergeben. Wenn du dir den kleinen Zeh stößt, muss dieses Signal also drei Zwischenstationen durchlaufen. Zuerst läuft das erste Neuron vom Zeh bis ins Rückenmark. Dort trifft es auf das zweite Neuron, das die Information in deinem Rückenmark aufnimmt und weiterleitet – entlang deiner Wirbelsäule, hinauf zum …
Thalamus, (das Tor zum Bewusstsein)
Man nennt das Rückenmark auch deshalb spinothalamichen Weg, weil es im Grunde die Nervenverbindung von deinem Körper zum Thalamus ist. Das zeigt die Wichtigkeit des Thalamus. Hier wird die erste wichtige Differenzierung der Aktionspotenziale unternommen. Ab hier hilft es mir nicht mehr von Potenzialen, sondern von Nachrichten oder Informationen zu sprechen. Für mich macht es das bildhafter, vielleicht ja auch für dich. Der Thalamus ist wie eine Art Schaltzentrale im Hirn, der ein gutes Gespür dafür hat, woher eine Information kommt, und wer Interesse an ihr haben könnte. Der Thalamus kennt sie alle. Im Grunde ist er der Vermittler des Tratsches. Von hier wird die Information an all die Zentren weitergeleitet, von denen der Thalamus glaubt, sie sollten es wissen. Stell ihn dir wie einen Zeitungsjungen mit einem Bündel frisch aus der Druckerei stammenden Zeitungen vor, welche in der nächsten Zeit unter die Menschen gebracht werden müssen. Menschen haben verschiedene Interessen und Kompetenzen, mittlerweile erkennt der Junge gut, wie er wem welche Information vermitteln kann.
Vom Tor zur Tafelrunde- oder der Runde Tisch im Hirn
Nun sind im Hirn keine Menschen vertreten, maximal ein Bewusstsein und davon im vielleicht wünschenswerten Fall nur eines. Aber was definitiv vertreten ist, sind verschiedene Areale des Hirnes, oder Zentren, denen wir gewisse Aufgabenbereiche zuschreiben. Die Amygdala, die Insula, der präfrontale Kortex, der anteriore singuläre Kortex, das periaquäduktale Grau, das sensorische und motorische Zentrum und der Hypothalamus sind einige dieser Zentren.
Im Folgenden werde ich dir einen Überblick über sie und ihre Aufgaben geben. Du brauchst diese Zentren nicht zwingend zu kennen, auch wenn sie helfen, Schmerzen zu verstehen. Wenn du also erstmal alles sacken lassen möchtest, kannst ohne Probleme zum nächsten Kapitel springen. Wenn du allerdings ein richtig tiefes Verständnis von dem Dialog in deinem Hirn entwickeln magst, dann sind die nächsten Sätze für dich interessant. Als kleine Vorwarnung, es werden jetzt erstmal einige Begriffe auf dich einprasseln, für die ich selbst eine Zeit gebraucht habe, um sie zu verstehen. Noch länger hat es gedauert, sie erklären zu können. Ich hoffe, dass es mir jetzt gelingt. Am Ende dieses Kapitels versuche ich sie mit ein paar Beispielen lebhaft zu machen.
Die Amygdala (das emotionale Zentrum)
Die Amydala verbindet Information mit Emotionen. Im Falle eines Schmerzreizes kann sie vor allem Alarm schlagen, wenn sie eine Gefahr sieht. Bedrohung, Angst und Furcht sind Emotionen, die stark aus der Amygdala getrieben werden. Im Grunde ist sie wie eine Alarmanlage im Hirn.
Die Insula
Die Insula ist vor allem an der Intensität eines Impulses interessiert, „Kinners da ham wa uns den kleinen Zeh aber janz schön doll anne Existenzgrenze gelevelt“. Sie hilft dir wie auf einer Skala einzuordnen, wo du gerade in deiner Empfindung stehst.
Der anterior cingulärer Cortex (ACC) - der Leidensdruck
Wie unangenehm ist der Schmerz für dich? Also nicht wie intensiv oder bedrohlich, sondern was macht diese Intensität mit dir? Wie sehr leidest du unter dieser Situation?
Der präfrontale Cortex (PFC) - der Analyst
PFC und ACC sind relativ nah beieinander in ihren Funktionen, aber der präfrontale Kortex hat eine deutlich analytischere Position als der anterior singuläre. Er fragt: wie unangenehm ist der Schmerz - wirklich - für dich und was machen wir jetzt dagegen?
Während der ACC eher katastrophisierend wirkt, rationalisiert der PFC.
Das sensorische Zentrum
Interessanterweise wird Schmerz erst in Zusammenarbeit mit dem sensorischen Zentrum gezielt einer Körperregion zugeordnet. Erst hier wird unterschieden, wo genau du etwas empfindest. Ohne das sensorische Zentrum wüsstest du zwar, dass etwas schmerzt – aber nicht, wo.
Ich finde es bemerkenswert, dass unser Gehirn enorme Rechenleistung darauf verwendet, einzuordnen, was wir empfinden, wie intensiv wir es empfinden und wie wir als Mensch mit unserer Geschichte dazu stehen. Die eigentliche Lokalisierung – also das ‚wo‘ – macht dagegen nur einen kleinen Bestandteil dieser Erfahrung aus.
Motorisches Zentrum oder motorischer Kortex
Hier werden im weitesten Sinne Bewegungsmuster und Schutzreflexe geregelt. Wenn du dir den kleinen Zeh stößt und schnell weg ziehen musst oder dich blitzschnell an der Tischkante fest halten möchtest, um nicht umzufallen, hilft dir dein motorischer Kortex.
Der Hypothalamus –
der heiße Draht zum Körper, oder vielleicht auch der Dirigent deines Neuro-Orchesters.
Der Hypothalamus ist die erste starke Brücke von deinem Gehirn zum Körper. Über ihn wird dein Hormonhaushalt reguliert und er stimmt das vegetative Nervensystem ein. Vielleicht hast du schon einmal davon gehört: Sympathikus und Parasympathikus – die beiden Hauptzweige des autonomen Nervensystems. ‚Autonom‘ bedeutet: sie laufen weitgehend unabhängig, ohne dass du bewusst eingreifen musst. Sie sind ein entscheidender Teil deines Nervensystems und beeinflussen Herzschlag, Blutdruck, Muskelspannung, Verdauung, ja sogar dein Blickfeld und deine Fähigkeit, dich zu konzentrieren. Der Sympathikus wird oft als ‚Kampf oder Flucht‘-System beschrieben: er beschleunigt dein Herz, erhöht deine Reaktionsbereitschaft, spannt Muskeln an und drosselt die Verdauung. Der Parasympathikus dagegen steht für ‚Ruhen und Verdauen‘: er aktiviert die Verdauung und fährt andere Körperfunktionen herunter. Die beiden sind wie Gaspedal und Bremse – oder wie Instrumente einer Symphonie, die mit unterschiedlichen Rhythmen zusammenspielen. Der Hypothalamus gibt dabei den Takt vor.
Neben dem vegetativen Nervensystem ist der Hypothalamus auch eng mit der Hypophyse verbunden. Diese erbsengroße Drüse ist zwar klein, aber von enormer Bedeutung für den Hormonhaushalt. Sie wird oft als ‚Meisterdrüse‘ bezeichnet – die oberste aller Drüsen. Die Hypophyse ist die Hormon-Schaltzentrale: Der Hypothalamus flüstert ihr Befehle ins Ohr und die Hypophyse sendet sie als Hormonsignale in den Körper. Auf diese Weise steuert dieses winzige Organ deinen Stoffwechsel, dein Wachstum, deine Stressreaktionen – ja sogar deine Bindungsfähigkeit. Man könnte sagen, sie ist wie ein zweiter Dirigent, der die hormonbildenden Drüsen des Körpers lenkt.
Das periaquäduktale Grau - die große Hemmung
Klingt erstmal trist - grau - ich denke da direkt an einen verregneten nebligen Herbsttag. Irgendwie ist alles etwas dumpfer, langsamer und träge. Tatsächlich ist das PAG wie Nebel für deinen Schmerz. Dein Hirn kann Schmerzen nämlich nicht nur einordnen und katastrophisieren. Es kann auch bewusst entscheiden: ach das ist gar nicht so schlimm, wir leiden nicht wirklich darunter. In einem solchen Moment kann das PAG schmerzhemmend wirken.